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Wer baut hat mehr vom Leben (1)

ps7657

Wir bauen ein Haus. Ganz genau: Wir lassen es bauen. «Ein Mann muss in seinem Leben ein Haus bauen und einen Baum pflanzen», sagte vor Jahren ein alter Kollege. – Bevor der Bau beginnen konnte, mussten wir einen riesigen Kirschbaum mitten auf dem Grundstück fällen. Das hätten wir wohl besser nicht getan, denn Glück hat uns diese Aktion nicht unbedingt gebracht...


Bis zum Erdgeschoss verlief der Bau einigermassen innerhalb der «Normen». Die Bauarbeiten schienen sogar sehr schnell voran zu kommen. «Heute werden die Aussenwände im Erdgeschoss gemauert», teilte mir meine Frau mit, «nach Feierabend gehen wir auf die Baustelle!» Das Erdgeschoss war der wichtigste Teil unseres Hauses. Wir hatten da ein riesiges Wohnzimmer – 6 auf 11 Meter – mit grossen Schiebefenstern, die Küche, das Entré und ein Gästezimmer vorgesehen.


Meine Frau betrat die Baustelle als erste. «NEIIIIIN!» Meine Frau schrie, als wäre sie geschlagen worden. «Wo sind unsere Fenster?!», fragte sie entsetzt. – Die von uns geplanten Schiebefenster sollten jeweils vier Meter breit sein und vor allem vom Boden bis zur Decke reichen. Wir standen aber vor vier Meter breiten Öffnungen mit 1.2 Meter hohen Brüstungen. Frisch gemauert mit roten Backsteinen...


Tags darauf zitierten wir den Bauleiter auf die Baustelle. Er kam mit dem Maurer. «Was ist das Problem?», fragte er und schaute sich auf der Baustelle um. «Da, die Fenster», erklärte ihm meine Frau, «was soll das?!» – Der Mann schien nicht zu verstehen, worum es ging. «Ja, die sind doch schön gross», sagte er. – «Und, wo sollen wir da hinaus gehen?» – «Na, das sind Fenster, keine Türen», antwortete der Maurer. Der Bauleiter entfaltete den Bauplan: «Voilà, wie im Plan, vier Meter breit». Meine Frau begann zu glühen. «Aber die Fenster sollten bis zum Boden gehen!»


Der Bauleiter und der Maurer steckten über dem Plan die Köpfe zusammen. «Aber, die Fenster sind so doch auch schon schön gross», stotterte der Maurer. «ABER WIR WOLLEN GROSSE SCHIEBEFENSTER!», schrie meine Frau. Ich hielt dem Maurer den Querschnittplan unter die Nase: «Da, ganz klar gezeichnet und vermasst...» Die beiden Männer standen einige Augenblicke wortlos in den Raum. «Ja, was machen wir jetzt?», wagte der Maurer vorsichtig zu fragen. «Abreissen! Einfach abreissen und von vorne beginnen», sagte meine Frau. «Ja, aber...», der Versuch eines letzten Einwandes des Bauleiters wurde durch den Gesichtsausdruck meiner Frau im Keime erstickt. Tags darauf hörte man weiterem im Quartier die Hammerschläge auf unserer Baustelle. Nach zwei Tagen meldete meine Frau: «Heute wird wieder aufgemauert – ich werde die Baustelle keine Sekunde verlassen und jeden Backstein, den sie platzieren, nachmessen...»




 
 
 

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